Es sind Geschichten wie aus einer anderen Welt: Bis in die 1970er war in der Schweiz das Wildheuen an Steilhängen oberhalb der Baumgrenze gang und gäbe. Das Gras benötigen die Bergbauern für ihre Tiere. 700 Jahre gingen von jedem Hof ab August Männer, Frauen und Kinder wochenlang hoch auf einen der um den Hof gelegenen Steilhänge. Das mit Sensen gemähte Wildheu lagerte meist vor Ort in kleinen Hütten, per Schlitten brachten die Bauern es im Winter ins Tal.
Alte Tradition, neue Technik
Für Konrad Anhorn aus St. Antönien im Schweizer Kanton Graubünden sind dies Geschichten, die er ebenfalls nur vom Erzählen her kennt. Denn als 1992 am 2 176 m hohen Eggberg und 1963 am Gämpiflue (2 390 m N.N.) vor seiner Haustür das letzte Wildheu bereitet wurde, war Konrad noch ein kleiner Junge bzw. noch gar nicht geboren.
Dass er selbst einmal „im Berg stehen“ würde, war nie ein Thema für ihn. Bis 2016 jedenfalls. Damals fällten er und sein 2019 verunglückter Bruder die Entscheidung, den elterlichen Hof gemeinsam fortzuführen. Auf der Suche nach Futterflächen – und nach neuen Abenteuern – kamen die beiden auf die Idee, nach 24 Jahren erstmals wieder die Steilwiese am nahe gelegenen Eggberg zu bewirtschaften. Anders als im letzten Jahrhundert aber nicht mehr mit der Sense, sondern mit Motormähern, Hill Rake, Laubbläser und Helikopter.
5 Tage gutes Wetter
Das Heuen der 4 ha großen Steilhangwiese auf dem Eggberg ist nur zwischen 1. August und 20. September erlaubt. Das schränkt das Zeitfenster für das Wildheuen ein. Erschwerend kommt hinzu, dass die Ernte – angefangen vom Mähen bis zum Abtransport des Heus – fünf Tage schönes Wetter am Stück verlangt. Für Konrad und seine inzwischen vielen freiwilligen Helfer macht dieser Umstand die Planungen nicht gerade leichter. Auch, weil das dreiköpfige Helikopterteam, das die Maschinen erst zum Berg und dann mit Heu wieder zurück ins Tal fliegt, drei Tage Vorlauf zum Planen benötigt. Bevor die beiden Motormäher samt Anbaugerät, Ersatzteilen, 110 l Treibstoff, Ersatzkleidung und Verpflegung zum Berg fliegen können, sind alle Vorbereitungen zu treffen. So müssen für die beiden Motormäher jeweils drei Messersätze mit 2 und 3,50 m Schnittbreite geschärft und eventuell zuvor auch neue Klingen eingesetzt werden.
Großen Wert legt Konrad auf die Verpflegung: „Für die harte Arbeit am Berg brauchst du Essen, das Kraft gibt – neben Schokolade sind es Wurst und Käse- oder Schnitzelbrote.“ Und, ganz wichtig: „Am Hang dehydrierst du furchtbar schnell, weshalb ich Wasser im Rucksack bei mir führe“, weiß Konrad aus leidlicher Erfahrung zu berichten. Tatsächlich verlangt nicht nur der Steilhang körperlich viel ab, sondern auch die Arbeit selbst. So kommt Konrad beim Mähen der 4 ha auf 55 000 Schritte. Bei 50 cm Schrittlänge entspricht dies einer Strecke von gut 25 km, die er dem Motormäher über Stock und Stein hinterher eilt.
Die Motormäher kommen mit Anbaugerät, Ersatzteilen und Verpflegung per Hubschrauber zum Berg – in diesem Fall zum 2 390 m hohen Gämpiflue. Der Berg hinten ist der Rätschenflue (2 703 m).
(Bildquelle: T. Schmidtkort)
Weil der Eggberg spät abtrocknet, beginnt das Mähen erst am Nachmittag. Mit Licht am Mäher kann Konrad aber bis in die Nacht arbeiten.
(Bildquelle: T. Schmidtkort)
Repariert und gewartet werden die Maschinen direkt vor Ort. Und wenn…
(Bildquelle: T. Schmidtkort)
…es sein muss, auch mal nachts.
(Bildquelle: T. Schmidtkort)
Ziel erreicht: Am zweiten Tag und nach mehr als 50 000 Schritten hinter seinem Motormäher erreicht Konrad erschöpft und zufrieden das Gipfelkreuz.
(Bildquelle: T. Schmidtkort)
Am Gipfel angekommen ist es Tradition, dass Konrad und sein Team sich im Eggberg-Gipfelbuch verewigen.
(Bildquelle: T. Schmidtkort)
Zur Person: Konrad Anhorn (35) – Ein Macher!
Er kommt vom Hof, doch eigentlich wollte Konrad Anhorn den elterlichen Betrieb nicht übernehmen. Lieber lernte er den Beruf des Zimmermanns, besuchte die Meisterschule und gründete seine eigene Holzbaufirma. Aber als die Geschwister den Berghof mit 21 ha Bergwiesen und teils 100 Jahre alten Gebäuden nicht übernehmen wollten, packte den jungen Schweizer die Leidenschaft.
Und so kam es, dass Konrad binnen vier Jahren neben einem Firmengebäude einen Stall mit Heulager und Trocknung für 60 Stück Großvieh baute. Nebenbei absolvierte er die Lehre zum Landwirt, demnächst darf er sogar selbst ausbilden. Hilfe kann der freundliche Macher derweil gebrauchen. Denn von 61 ha liegen 50 ha in Steillage. 70 % der Wiesen sind Biodiversitätsflächen, die nicht gedüngt werden dürfen.
Tricks fürs Arbeiten am Hang
Bleibt die Frage: Wie hält die ganze Technik die Arbeit am Steilhang überhaupt aus? – „Die Brielmaier-Motormäher sind in ihrer Bauart einzigartig“, weiß der sympathische Kerl zu erklären. So macht allein der niedrige Schwerpunkt der Maschinen diese hangtauglich. „Und die Handhabung, wie sich die Motormäher steuern und am Hang manövrieren lassen, ist geradezu perfekt“, schwärmt Konrad weiter. Am liebsten arbeitet er mit dem großen, 26,5 PS starken Mäher mit 3,50 m Schnittbreite.
Damit die Motoren und die Hydraulik am Steilhang keinen Schaden nehmen, werden die Öltanks konsequent überfüllt. Und damit die Maschinen nicht abrutschen, zieht Konrad spezielle Walzen auf. Deren Stacheln dringen tief in den Boden ein, so dass die Maschine nicht ins Rutschen kommt“, erzählt Konrad mit Verweis auf blaue Flecken, die er trotz allem regelmäßig beim Mähen davon trägt.
Die gute Nachricht: Obwohl Konrad vom Lenksensor, diversen Kupplungshebeln, Messerniederhaltern und Kupplungsplatten bis zu Zinken und Messerbalken fast jedes Bauteil als Ersatzteil mit sich führt, ging bislang nicht nennenswert viel entzwei – abgesehen von einem abgebrochenen Kupplungshebel nach mehrmaligem Überschlag eines Motormähers.
Bleibt nur zu wünschen, dass neben den Maschinen er und seine Helfer ebenfalls jedes Jahr aufs Neue unbeschadet vom Wildheuen am Eggberg und vom noch steileren Gämpiflue zurückkommen.
Tag 5 – die Helfer rücken an: Im ersten Jahr waren Konrad und sein Bruder noch ganz auf sich allein gestellt. Heute melden sich per Instagram viele Freiwillige, die ihm beim Heuen helfen möchten.
(Bildquelle: T. Schmidtkort)
Trotz moderner Technik ist das Wildheuen am Steilhang immer noch ein großes Stück pure Handarbeit.
(Bildquelle: T. Schmidtkort)
Moderne Heurechen: Mit Laubbläsern pusten Konrad und seine Helfer das trockene Gras den Berg hinab.
(Bildquelle: T. Schmidtkort)
Mit dem Hill Rake – ein Mix aus Schneeschieber und Zinkenschwader – wird bergabwärts geschwadet.
(Bildquelle: T. Schmidtkort)
Auf Zuruf: Die dreiköpfige Helikoptermannschaft arbeitet mit vollem Einsatz bei der Wildheuernte mit, damit der An- und Abtransport von Maschinen und Heu reibungslos gelingt.
(Bildquelle: T. Schmidtkort)
In sechs Netze verpackt, jeweils bis zu 750 kg schwer, gelangt das Heu des Eggbergs in nur einer Minute zum Stall im Tal.
(Bildquelle: T. Schmidtkort)
Lawinen und Naturschutz durch Wildheuen – Futter & mehr
Das Wildheuen am Steilhang liefert nicht nur leckeres Futter, es dient auch dem Lawinen- und Naturschutz. Denn ohne Mahd versteppen die Flächen, und seltene Pflanzen gedeihen dadurch weniger gut. Wie Wildheuprojekte zeigen, treten aber als verschwunden geglaubte Pflanzen wieder auf, wenn Steilwiesen wieder bewirtschaftet werden.
Neben der Natur profitiert der Mensch vom Wildheuen, insbesondere durch eine reduzierte Lawinengefahr. Denn wird das Gras der Steilwiesen nicht gemäht, neigen sich mit dem ersten Schnee die Halme hangabwärts. Der Schnee findet so keinen Halt, weshalb Schneebretter und Lawinen oft ohne Ankündigung abgehen.
Ebenso problematisch ist der wilde Anflug von Erlen. Anders als die Fichte bewirken nämlich eingeschneite Erlenbüsche Bruchkanten, die wie Sollbruchstellen ebenfalls den Abgang von Lawinen begünstigen.
Das Wildheuen am Steilhang ist damit unter dem Strich gelebter und aktiver Natur- und Lawinenschutz – was miterklärt, warum Schweizer Naturschutzbehörden gerne Jahr um Jahr das Wildheuen direkt vor Ort begleiten.