Harter Markt
Aus profi 2/1994
Einfach war er nie, der russische Markt. Damals war es der Zerfall der UdSSR, heute der Ukraine-Krieg. Aktuell sind es vor allem Hersteller aus Asien, die Marktanteile gewinnen.
Die Landmaschinen-Industrie in der Sowjetunion setzte sich früher zusammen aus den verschiedensten hoch spezialisierten Fabriken, die für ihre Produkte oft eine Monopolstellung hatten und jeweils für die gesamte Sowjetunion Traktoren und Mähdrescher oder andere Landmaschinen herstellten. Damit kamen für das einzelne Produkt riesige Stückzahlen zustande, von denen westliche Firmen nur träumen konnten. Und es lohnte sich, jeweils die komplette Maschine ohne Zulieferanten im eigenen Werk zu bauen.
Zwischen den Fabriken und zwischen den Staaten der Sowjetunion entstand mit der Zeit aber dennoch ein reger Tausch von Einzelteilen und kompletten Baugruppen. Die russische Landmaschinenindustrie spielte aufgrund ihrer Größe dabei stets eine besondere Rolle. Sie lieferte über 8 000 verschiedene Einzelteile, Baugruppen und Halbzeug in andere Republiken der Union. Umgekehrt erhielten russische Fabriken mehr als 4 000 Positionen von anderen Partnern außerhalb Russlands.
Im Durchschnitt lieferte jede ehemalige Unionsrepublik 55 bis 60% ihres Produktionsumfanges nach Russland. Russland selbst lieferte nach Stückzahlen nur gut 40 % in andere Republiken, wertmäßig lag der Umfang dieser „Exporte“ von Russland jedoch mit 320 Milliarden Rubel doppelt so hoch wie bei den „Importen“ nach Russland.
Traktoren, Mähdrescher, Pflüge und andere sogenannte Grund-Landmaschinen werden heute überwiegend in Russland, Weißrussland, Kasachstan und in der Ukraine gebaut. Die Produktion der Schlüsselmaschinen Traktoren und Erntemaschinen wird von diesen vier GUS-Staaten allein bestritten. So werden alle Mähdrescher und Getreideaufbereitungsanlagen in Russland hergestellt. Mais- und Rübenernter werden ausschließlich in der Ukraine gebaut. Und in Weißrussland werden 60 % aller Kleintraktoren, 75 % der Kartoffel-Legemaschinen und 100 % der Kartoffelroder gebaut.
Wie die Tabelle 1 zeigt, werden die meisten Maschinen vollständig in einer Fabrik gebaut, nur selten sind zwei oder mehr Fertigungsstätten beteiligt. Eine Arbeitsteilung wie im Westen Europas, wo Motoren und Getriebe, Elektrik und Hydraulik, Lager oder Gussteile aus spezialisierten Fertigungsstätten bezogen wird, war in der Sowjetunion nicht üblich.
Durch den Zerfall der Sowjetunion in unabhängige Staaten, durch die Veränderungen der Agrarstruktur (einzelbäuerliche Betriebe, Überführung von Kolchosen und Sowchosen in andere Rechtsformen) und durch die Freigabe der Preise entwickelte sich die Landmaschinen-Industrie in den letzten Jahren allerdings rückwärts. So ist etwa ein Viertel der Produktionsanlagen und Maschinen in den Landmaschinenfabriken älter als 10 Jahre.
Mittlerweile ist die Produktionsauslastung auf 50 bis 70 % zurückgegangen. Die Auslastung der russischen Landmaschinenindustrie liegt damit im Vergleich zu anderen Produktionssparten der Volkswirtschaft am unteren Ende der Skala.
Das Ergebnis ist ein erheblicher Rückgang des Produktionsvolumens, wie die Tabelle 2 deutlich zeigt. Danach ist in Russland z.B. die Produktion von Traktoren von 1980 bis 1991 um fast 30 % gesunken, bei Mähdreschern sogar um mehr als 50 %. Dieser Trend setzte sich 1992 und 1993 weiter fort.
Ein Vergleich des Maschinenbesatzes (in Tabelle 3) zeigt dabei, dass die geringe Auslastung – anders als im Westen – keinesfalls an einem sinkenden Bedarf der Praxis liegt. Im Gegenteil: in nahezu allen Bereichen liegt die Maschinenausstattung der landwirtschaftlichen Betriebe um 20 bis 40 % unter dem tatsächlichen Bedarf. Vor allem die Entwicklung der privaten Landwirtschaft wird durch den Mangel an Technik außerordentlich gehemmt.
Und die vorhandenen Landmaschinen sind oft restlos veraltet: Etwa die Hälfte des Schlepperbestandes besteht aus veralteten Typen, die in den sechziger Jahren entwickelt wurden. 10% der Schlepper sind sogar noch älter.
Modernere Schnellgang-Traktoren machen nur etwa 25 % des Gesamtbestandes aus.
Und die durchschnittliche Lebenserwartung eines neuen Traktors liegt bei nur 8 bis 10 Jahren, viele Maschinen haben sogar eine deutlich kürzere Nutzungsdauer. Jeder dritte Schlepper muss abgeschrieben werden, bevor er seine geplante Nutzungszeit erreicht hat!
Auch der Rückstand der konstruktiven Entwicklung ist groß: Noch 1986 entsprachen 44 % der produzierten Modelle dem Welt-Standard. 1987 lag dieser Wert nur noch bei 39 %, seither ist der Stand der Technik weiter gesunken.
Eine Untersuchung der Landmaschinen-Industrie im Jahre 1990 zeigt, dass etwa 30 % der Erzeugnisse seit 10 Jahren und länger ohne Veränderungen produziert werden. Der Anteil von aussichtsreichen Neuheiten betrug 1990 nur 5,3 %, darunter befanden sich nur 0,9 % echte Neuentwicklungen.
Die Situation in der Forschung und Entwicklung hat sich seit dem Zerfall der Sowjetunion deutlich verschlechtert. Das wissenschaftlich-technische Potential der Landmaschinen-Industrie wurde durch die Unabhängigkeit der Republiken enorm geschwächt. Von 86 Forschungsinstituten, die in der ehemaligen Sowjetunion für die Landtechnik arbeiteten, befinden sich nur 33 auf russischem Boden, von den 22 Instituten für Tierproduktion liegen gar nur 5 innerhalb Russlands.
Die unterentwickelte und über weite Strecken ganz zerbrochene Infrastruktur sowie der technische Rückstand der Branche und der fehlende Wettbewerb fordern die Landmaschinenfabriken nun keineswegs, modernere Technik zu niedrigeren Preisen zu produzieren. Mit hohen Preise tragen sie vielmehr zu der desolaten Situation bei.
Die Freigabe der Preise im Jahre 1991 hat der russischen Landmaschinen-Industrie nicht geholfen, sondern geschadet. Obwohl Russlands Landwirtschaft dringend Landmaschinen benötigt, wurden Schlepper und Mähdrescher, Häcksler und Sämaschinen auf Halde produziert. Die Kolchosen und Sowchosen konnten ebenso wie die privaten Landwirte nichts kaufen, weil sie nicht zahlungsfähig sind.
Im ersten Jahr stiegen die Preise zunächst rapide an. Die Reformmaßnahmen 1992 führten dann zu einer Liberalisierung der Preise. Diese Entwicklung störte jedoch das (nie richtig vorhandene) Gleichgewicht des Marktes weiter, der Produktaustausch zwischen Stadt und Land wurde noch schwieriger. Verkauft wurde noch weniger:
Im ersten Quartal 1992 blieben die Agrosnab-Handelsbetriebe für Landmaschinen auf etwa 30 % ihrer Maschinen und Geräte sitzen. Denn der Kaufpreis für einen Niwa-Mähdrescher in Grundausstattung lag damals bei 830 000 Rubel, die landwirtschaftlichen Betriebe hatten jedoch im Mittel nur 600 000 Rubel auf ihren Verrechnungskonten zur Verfügung! Die Inflation hat die Preise inzwischen weiter steigen lassen, wie die Tabelle 4 zeigt.
In der Not greifen deshalb viele landwirtschaftliche Betriebe auf die Handarbeit zurück. Zur Zeit liegt der Anteil an Handarbeit im Agrarsektor bei mehr als 50 %! Beispielsweise werden nur 52 % der Kartoffeln mit Vollerntern gerodet, und nur ein Viertel der Gemüseflächen wird maschinell geerntet.
Um dieser Entwicklung Herr zu werden, wird gegenwärtig ein sogenanntes Föderales Maschinenbauprogramm entworfen: Von 1993 bis 1998 sollen insgesamt 970 neue Landmaschinentypen entwickelt und hergestellt werden. Im gleichen Zeitraum ist die Produktion von 2 470 neuen Werkzeugmaschinentypen vorgesehen. Dafür investiert die Regierung 9 Billionen Rubel, bei einem inoffiziellen Kurs von 14 Pf/100 Rubel sind das umgerechnet immerhin etwa 12,5 Milliarden Mark.
Aus dem Staatshaushalt sollen darüber hinaus Forschungs- und Entwicklungsarbeiten finanziert werden. Auch der Import von Landmaschinen soll stärker subventioniert werden. Vorgesehen ist ein Investitionsfonds für die Entwicklung des Landmaschinenbaues, der auf Grundlage langfristiger Kredite von 2,4 Billionen Rubel (etwa 3,4 Mrd. DM) gegründet werden soll.
Ohne tiefgreifende Änderungen lässt sich der derzeitige Abwärtstrend in der russischen Landmaschinen-Industrie aber nicht umkehren. Für einen Strukturwandel und einen gesunden Wettbewerb sind erforderlich:
- Strukturveränderungen im einheimischen Landmaschinenbau,
- Wiederaufnahme der Beziehungen zu anderen GUS-Staaten,
- großzügige Investitionen auch aus dem Ausland sowie
- Erneuerung der Produktionsanlagen.
Eine mögliche Chance, aus diesem Dilemma der Landmaschinen-Industrie und der schlechten Inlandsversorgung herauszufinden, besteht in der Zusammenarbeit mit Auslandsfirmen:
Neue und fehlende Maschinentypen könnten in Russland gemeinsam mit ausländischen Herstellern gebaut werden. Die Gründung von joint ventures z. B. mit der Landtechnik Schönebeck, Fortschritt und Petkus, aber auch Goldoni oder Mezögep (Ungarn) oder anderen Herstellern sind hier im Gespräch.
Der Niedergang der Landmaschinen-Industrie setzt sich bis dahin ungebremst fort, wie die Produktionszahlen für 1993 zeigen. Im ersten Halbjahr wurden 64 600 Traktoren gebaut, das sind 65 % der Produktionszahlen vom ersten Halbjahr 1991. Auch die Zahl der neuen Mähdrescher fiel im ersten Halbjahr 1993 auf weniger als 20 000 – ebenfalls nur zwei Drittel der 1991 im gleichen Zeitraum hergestellten Erntemaschinen.